Archive for the ‘Berlinale 2007’ Category

Eye in the Sky (Gun chung, HK 2007, Nai-Hoi Yau) (Forum)

Sonntag, Februar 11th, 2007

“I am the eye in the sky
Looking at you
I can read your mind
I am the maker of rules”
(Alan Parsons Project)

Große Brennweiten, auffällige Zooms, mechanische Schwenks, extreme Vogelperspektiven – davor aber Interferenz-Bilder von einer öffentlichen Szenerie. Mit dieser Überwachungskamera-Ästhetik beginnt Nai-Hoi Yau seinen Film “Eye in the Sky”, gibt damit sein Thema vor und verdeutlicht, dass der Titel des Films durchaus wörtlich gemeint ist. Es geht um eine Polizeieinheit, die “Surveillance Unit”, die Verbrechen durch verdeckte Ermittlungen aufklären soll. Sie bedient sich dabei vor allem Überwachungstechnologien: Miniaturkameras, öffentliche Kameras, Richtmikrofone und Wanzen.

Yau erzählt die Geschichte von “Piggy”, einer jungen Frau, die sich der Einheit gerade anschließt und noch etliche “Änfängerfehler” begeht – etwa den, die Verfolgung eines Verdächtigen abzubrechen, um einem verblutenden Polizisten das Leben zu retten. Dass der Polizist dann doch stirbt und Piggy ihr “Zielobjekt” scheinbar endgültig aus den Augen verliert, soll ihr zeigen, dass sie die falschen Prioritäten setzt. Und in der Tat passiert ihr dies kein zweites Mal: Als ihr Vorgesetzter bei einer späteren Verfolgung des bereits verloren geglaubten Verbrechers lebensgefährlich verletzt wird, lässt Piggy ihn links liegen und macht den so den Schlupfwinkel des Verbrechers ausfindig. Und wie durch ein Wunder verblutet der zurückgelassene Kollege nicht an seiner durchtrennten Halsarterie, sondern gesundet scheinbar wie von selbst und reißt dabei noch Witze.

Die Parabel, die “Eye in the Sky” bereit hält, ist simpel, ja eigentlich sogar naiv: Wissen und Technologie zum Guten eingesetzt haben gute Folgen – dem Gegner/Bösen scheinen diese Mittel zwar auch zu helfen, aber sie führen sie schließlich nicht zum Ziel, sondern ins Gefängnis. Ästhetisch verpackt Yau diese Moral in hektisch montierte Sequenzen, immer wieder Beobachtungskamera-Ästhetiken und trennt seine Szenen auffällig oft durch Interferenz-Blenden. hinzu kommt ein treibender Soundtrack, zwischen Elektronik und traditionellen Instrumenten.

Das Sujet des Films jedoch ist ein wenig altbacken: Eine Polizei-Buddygeschichte, wie sie im westlichen Kino der 1980er/90er Jahre Standard war, frei von Brechungen und reich an Klischees – bis hin zum erwartbaren Happy End. Die Schuld dieser Klischees ist es auch, dass der Zuschauer (zumal der deutsche, der die jüngsten Bestrebungen zum totalen Lauschangriff mit Schrecken zur Kenntnis nehmen muss) viel Zeit zum Nachdenken hat, während der Film läuft und von dessen Diskurs, diesem technologischen “Alles wird gut”-Optimismus unangenehm berührt ist. Vielleicht kann man das einem Hong-Kong-Film aus dem Jahre 2007 nicht vorwerfen, weil hier vielleicht andere Probleme bestehen als dort. Andersherum könnte sich Yau aber auch nicht beschweren, wenn sich seine deutschen Zuschauer angesichts soviel Hurra-Technologismus auf den Schlips getreten fühlen.

The Home Song Stories (Australien 2007, Tony Ayres) (Panorama)

Samstag, Februar 10th, 2007

Als jüngste Tochter in einer traditionell lebenden chinesischen Familie, erzählt Rose ihrer eigenen Tochter, sei sie in der Hierarchie ganz unten gewesen und – beinahe noch als Kind – an einen älteren Chinesen verheiratet worden. Dieser habe sie brutal behandelt und sich, nachdem Rose zwei Kinder gestorben sind, eine Konkubine zugelegt. Erst als der jüngere Bruder des Ehemannes zu ihnen ins Haus zog, begann sie neue Hoffnung zu schöpfen und erstmals Liebe zu empfinden. Doch auch dieses Glück war nicht von Dauer und endete tragisch. Die Erinnerung, die Rose ihrer Tochter May am Krankenhausbett vorträgt, soll verdeutlichen, woher Roses eigener, überaus unsteter Lebenswandel kommt. Roses Geschichte ist selbst wiederum die Erinnerung ihres Sohnes Tom, Mays kleinem Bruder, der sich als Erwachsener an seine traumatische Kindheit erinnert und einen Roman über das Leben zusammen mit seiner Mutter schreibt.

Tony Ayres „The Home Song Stories“ bebildert diesen Roman und schildert Rose als eine Frau, die sich selbst stets in Abhängigkeiten – zumeist zu Männern – begeben hat, es dort jedoch aufgrund eines unbändigen Freiheitswillens nie lange ausgehalten hat. So reist sie zu Beginn des Films mit ihren beiden Kindern zu einem Exmann nach Australien, der seine ehemalige mit offenen Armen empfängt. Doch auch bei ihm fühlt sich Rose nicht wohl und tut sich mit einem fast noch jugendlichen chinesischen Restaurantkoch zusammen. Als dieser sie verlässt, begeht Rose den ersten von etlichen Suizid-Versuchen – ohne auch nur einen Gedanken an das Schicksal ihrer beiden minderjährigen Kinder zu verschwenden. Diese sind es jedes Mal, die ihre Mutter nach den Krankenhausaufhalten emotional auffangen und ihr neuen Lebensmut geben, bis Rose diesen abermals für eine fatale Liebschaft aufs Spiel setzt und das Spiel von neuem beginnt.

„The Home Song Stories ist ein melodramatischer Film, der seinen Zuschauer aufwühlen will, jedoch nie um des bloßen Effektes willen. Frei von allen Klischees, zeichnet er authentische Figuren, die zu jeder Zeit existieren und in ähnliche Situationen geraten könnten. Die Schilderung des Lebensweges einer Exil-Chinesin aus Hong Kong im fernen Australien Mitte der 1960er Jahre benötigt gar nicht erst jene erwartbaren ethnischen oder rassistischen Konflikte – was Rose und ihre Kinder durchleben, ist eine selbst geschaffene Hölle, zu der von Außen allenfalls Roses Liebhaber zusätzliches Unglück beisteuern. Wie sehr dieses Unglück letztlich durch Missverständnisse, unausgesprochene Verdächtigungen und die narzisstischen Krisen Roses erst herauf beschworen wird, führt „The Home Song Stories“ schonungslos vor. Jahre später noch, versucht Tom schreibend zu vergessen, was sich ihm an Erlebnissen und Bildern als kleiner Junge eingebrannt hat – wie er seine Mutter nach ihrem ersten Suizidversuch im Krankenhaus besucht und sie alle künftige Verantwortung auf seine Schultern zu lasten versucht, wie er physische Reaktionen auf die immer neuen Familienkonstellationen entwickelt oder wie er sie schließlich erhängt im Schuppen neben dem Haus findet.

Der erwachsene Tom greift in solchen Szenen auf der Tonspur immer wieder ein und kommentiert ihre Bedeutung für die Erinnerung an seine Mutter. Der Film „The Home Song Stories“ bebildert seine Erinnerungsspur, die er in der Rahmenhandlung schriftstellerisch zu fixieren versucht – um seine Mutter, für die er nach ihrem Tod nie eine Träne vergossen hat, verstehen zu können, um sie vergessen zu können, um sie lieben zu können, wie er sagt. Ob ihm all dies gelingen könnte, lässt der Film offen. Die stark gezeichneten Figuren, die ruhige, beinahe dokumentarische Beobachtung der Kamera und der nur an wenigen Stellen akzentuierenden Soundtrack des Films tragen dazu bei, dass der Zuschauer an diesem leidvollen Prozess teilhaben kann. „The Home Song Stories“ ist ein Film, bei dem man mit zu leiden in der Lage ist.

Tony Ayres Film lief – unter Anwesenheit des Regisseurs und der Rose-Darstellerin Joan Chen – in der Weltpremiere auf der Berlinale.

The Good Shepherd (USA 2006, Robert de Niro) (Wettbewerb)

Samstag, Februar 10th, 2007

Robert de Niros zweite Regie-Arbeit nach “A Bronx Tale” (1993) verlässt das Private des Stadtviertels und die Sicherheit der reinen Gegenwartserzählung und entwirft in fast drei Stunden die Geschichte des fiktiven CIA-Mitbegründers Edward Wilson (Matt Damon), dessen Privatleben einfach nicht aus seinem Job herauszuhalten ist – fast schon wie bei König Ödipus erfüllt sich ein (hier jedoch ererbtes) Schicksal: Er kann nicht loyal sein, weil das Leben nun einmal mehr als eine “gute” und eine “böse” Seite hat, zwischen denen man sich einfach nur zu entscheiden braucht.

De Niro erzählt in epischer Breite, wie sich der Charakter seiner Hauptfigur im Gleichschritt mit dem Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg, dem danach eskalierenden Kalten Krieg und schließlich der Zerschlagung der CIA nach dem Desaster in der Kubanischen Schweinebucht 1961 entwickelt. Immer sind es alte Freunde oder Feinde, die seinen Weg mit beinflussen und wie ein Geist scheint sein familiäres Schicksal zuerst über ihm und dann auch über seinem Sohn zu schweben – “ein Geist, der stets das Gute will und doch das Böse schafft.”

“The Good Shepherd” ist Erzählkino ganz im Stil des “späten” Martin Scorsese von “Gangs of New York”. Schon bei “A Bronx Tale” wollte oder konnte sich Regisseur de Niro nicht von den Sujets seines kinematographischen Ziehvaters lösen. Ob diese ästhetische Nähe seiner eigenen Filmkunst gut tut oder ihm gar zu Ruhm gereicht, könnte die Stellung des Films im Wettbewerb der Berlinale entscheiden. Letztlich ist “The Good Shepherd” auf jeden Fall solide erzähltes Kino.

Mir war der Film jedoch eindeutig eine Stunde zu lang. Die Detailverliebtheit, mit der historische Ereignisse in die Handlung integriert wurden, zu versessen auf eine Agenda, wie sie Stone (in “J.F.K”) oder Scorsese (in “Gangs of New York”) verfolgen: der Re-Lektüre amerikanischer Geschichte im Kino. Fragwürdig waren vielleicht auch einige Rollen-Besetzungen des Films. Dies lag vor allem daran, dass de Niro einen Zeitraum von 30 Jahren nacherzählt, ohne seine Darstellerwahl daraufhin angepasst zu haben: Hier wirkt Angelina Jolie auf mich genauso unglaubwürdig besetzt wie der Hauptdarsteller Matt Damon (dessen Film-Sohn, gespielt von Eddie Redmayne, zeitweilig mindestens ebenso alt aussieht wie sein Vater).

Brand upon the Brain (USA/Kanada 2006, Guy Maddin) (Forum)

Samstag, Februar 10th, 2007

“Painting the past” – das ist das Projekt Guys, der als erwachsener Mann auf die Insel zurückkehrt, auf der er als Kind gelebt hat. Seine Mutter hat dort in einem Leuchtturm ein Waisenhaus betrieben, sein Vater im Keller desselben merkwürdige Experimente angestellt. Guy und seine Schwester Sis verbringen ihre Tage mit den Waisen, eilen jedoch jedes Mal, wenn der Ruf der Mutter durchs “Aerophon” dröhnt, zurück nach Hause, um zu essen oder sonstigen Pflichten nachzukommen. Doch irgend etwas stimmt nicht mit der Mutter und erst recht nicht mit dem Vater. Die Waisen haben merkwürdige Verletzungen am Kopf und im Nacken und als eines Tages die berühmte Detektivroman-Schriftstellerin Wendy Hale auf die Insel kommt, um die seltsamen Vorgänge zu untersuchen, bricht das Chaos aus: Guy verliebt sich in Wendy, Wendy verliebt sich in Sis, die Mutter argwöhnt Verschwörung und der Vater wird ermordet, nur um dann – dank seiner Experimente – wieder reanimiert zu werden.

“Irgend etwas”, so könnte man meinen, stimmt auch mit Guy Maddins Film nicht. “Painting the past” ist nämlich nicht nur das von der Hauptfigur betriebene Projekt (auf Wunsch der Mutter kehrt Guy als Erwachsener zur Insel zurück und streicht den Leuchtturm weiß, während ihm jene Erinnerungen an seine Kindheit kommen, die wir als Film zu sehen kriegen); auch Regisseur Guy Maddin malt – zum wiederholten Mal – Bilder der Vergangenheit. Sein Film ist Kader für Kader eine Hommage an die Bildästhetik des Stummfilms. Von den Qualitätsschwankungen über die punktiert-beleuchteten Bildakzentuierungen bis hin zu den Zwischentext-Tafeln.

Der Sinn dieser Ästhetik ist wohl weniger im Sujet des Films zu suchen, als im künstlerischen Projekt Maddins. “Brand upon the Brain” ist nicht der erste Film von ihm, in dem er sich bildästhetisch an die Frühzeit des Kinos anlehnt. In seinem jüngsten Werk gerinnt dieser Individualstil jedoch beinahe zur Attitüde, weil er letztlich ohne Bezug zum Übrigen des Films zu sein scheint. Und dennoch ist da etwas, etwas das Spaß bereitet, das sich genau aus der teilweise recht ironischen Verwendung der körnigen Bilder und verschwommenen Zwischentitel ableitet.

Über seine vorherigen Experimente hat Maddin es gelernt, eine ironische Spannung zwischen Bild und Ton, Schrift und Bild, Montage und Musik herzustellen. Diese entlädt sich im Verlauf des Films und seiner immer surrealer werdenden Erzählung zusehends. Irgendwann starrt man auf die Leinwand und wundert sich, dass man die Schnitt-Kaskaden und Ton-Kakophonie zu ertragen in der Lage ist – soweit schafft es Maddin den Zuschauer zu bringen und noch nach Steigerung zu verlangen.

Die Musik des Film ist – das darf nicht unerwähnt bleiben – überhaupt ein Juwel! Zumeist spielt ein Streichquartett eingängige, jedoch keineswegs naiv strukturierte Themen, hin und wieder abgelöst oder begleitet von Klavier und ganz selten auch perkussiven Instrumenten: Es kommt einem vor, als wären (wie zu Zeiten des Stummfilms) Filmmusiker anwesend, die die Bilder assoziativ begleiten. Und das stimmt(e) sogar fast: Komponist Jason Staczek war Ende Januar im Vorfeld der Berlinale in Berlin und dirigierte das Volkswagen-Orchester live während einer Vorführung von “Brand upon the Brain” im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt.

The Good German (USA 2007, Steven Soderbergh) (Wettbewerb)

Freitag, Februar 9th, 2007

Am Ende von Soderberghs “The Good German” stehen George Clooney und Cate Blanchett an einem Flughafenrollfeld, im Hintergrund die Propellermaschine, die die Frau in die Freiheit bringen wird. Die Montage der Szene folgt – wenn ich mich recht erinnere – en detail jener zwischen Ingrid Bergman und Humphrey Bogart in “Casablanca”, nur operiert “The Good German” mit umgekehrten Vorzeichen: Der von Clooney gespielte Presseoffizier hat gerade – ohne es zu wissen – einer Kriegsverbrecherin zur Flucht vor ihrer Bestrafung verholfen.

Die Erzählung ist situiert vor dem Hintergrund der Potsdamer Konferenzen, die über das Schicksal Deutschlands nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg entschieden hat. Während die Staatsmänner im Vordergrund Frieden schließen, entwickelt sich im Hintergrund der kalte Krieg. An dessen Fronten kämpfen die Russen bereits gegen die Amerikaner darum, wer das Know-how in Form deutscher Wissenschaftler aus dem Krieg mit nach Hause nehmen darf. Im Einzelnen geht es um die Wissenschaftler, die mit dem V2-Projekt beschäftigt waren und im Konzentrationslager “Dora-Mittelbau” tausende Zwangsarbeiter zu Tode gebracht haben.

Jacob Geismar (George Clooney) trifft in Berlin auf seine ehemalige Geliebte und Redakteurin Lena Brandt. Sie weiß offenbar, wo sich ihr Mann aufhält, der eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung der V2 gespielt hat. Ihr auf den Fersen sind sowohl die Russen als auch die Amerikaner. Letztere missbrauchen Geismar, um an den Aufenthaltsort des Gesuchten zu gelangen. Nach und nach enthüllt der Film mehr Details um die Liebesgeschichte zwischen Jacob und Lena, die Ereignisse um Lenas Mann und die Machenschaften der Besatzer, denen offenbar jedes Mittel recht ist, um als Gewinner aus der Sache hervorzugehen: Wer in den Besitz der Raketenpläne gelangt, bestimmt das Schicksal der Welt, verrät einer der Offiziere dem sich stets im informationellen Hintertreff befindlichen Jacob.

“The Good German” ist in seinem Plot ein verwirrend “moderner” Film, der auf kein noch so konventionelles Mittel zur Entwicklung seiner Geschichte verzichten will. Er bedient sich dabei vor allem beim Film noir, entwickelt seinen Verlierer-Helden (Jacob) und seine Femme fatale (Lena), als habe ihm dabei ein “Die schwarze Serie für Dummies”-Leitfaden vorgelegen. Die zahlreichen Allusionen und Stilistiken, die Soderberghs Film dabei zitiert, werden mit einem recht fatalen Hang zur “Hollywoodisierung” von Historie verwoben, so dass man sich bereits nach den ersten Minuten des mit dokumentarischem Material angereicherten (oder dieses simulierende?) Schwarzweiß-Films an Baudrillards Überlegungen zur “Geschichte als Retro-Szenario” erinnert fühlt.

Und in der Tat bleibt der Film auch derart naiv in seiner Engführung von Historie und Histoire. Keinerlei Brüche, kein Humor, keiner Distanz, stets auf das Authentische abzielend, erzählt Soderbergh in seinem äußerst schwachen Film eine Fabel vom “kleinen Konflikt im großen Krieg”, wie sie den ideologisierten Großproduktionen der 1950er Jahre noch gut zu Gesicht gestanden hätte. Dass der Film von einigen Pressevertretern ausgepfiffen wurde, ist verständlich – noch verständlicher jedoch, das die meisten im Kinosaal am Ende einfach stumm verlassen haben – ein derart kantenloses, naives Werk lässt einem schließlich die Worte fehlen.

Lost in Beijing (Ping, guo, China 2007, Yu Li) (Wettbewerb)

Donnerstag, Februar 8th, 2007

Die Frage, ob “Lost in Beijing” in ungekürzter Fassung auf der Berlinale zu sehen sein würde, lässt sich selbst nach der Sichtung (und wenn man sich von der Pressekonferenz fern hält) nicht ohne weiteres beantworten. Sicherlich sind es die Sexszenen des Films gewesen, die bei den chinesischen Zensoren auf Widerstand gestoßen waren. Die sind in der von mir gerade gesehenen Fassung aber noch so reichlich und explizit (mit einigen zensurpräventiven Verhüllungen freilich) vorhanden, dass der Film ungekürzt wirkt.

Auffällig sind die Bildästhetiken des Films. Neben der beinahe permanent (?) eingesetzten Handkamera, den Unschärfen, kurzen Brennweiten und desorientierenden nahen Einstellungsgrößen sticht die Montage aus “Lost in Beijing” am deutlichsten hervor: Fast scheint es, als habe der Godard von “Außer Atem” hier Pate gestanden: Selbst äußerst langsame Sequenzen, die lediglich eine Person weinend auf einem Bett sitzend zeigen, werden mit mehreren Jump-Cuts zelegt. Unter dem Verdacht der Zensurierung könnte man annehmen, dass eine derartige Montage ein gutes Versteck für Zensurkürzungen sein könnte. Das ist natürlich (bzw. höchstwahrscheinlich) nicht so – die Montage steht, wie alle anderen Bildästhetiken ganz im Dienst der Erzählung des Films.

Die handelt, tragikomisch, von zwei verheirateten Paaren, das eine reich, das andere arm. Als der reiche Mann die arme Frau vergewaltigt und diese kurz darauf schwanger wird, entsteht beim armen Mann die Idee, den reichen um Geld zu erpressen. Als Gegenleistung bekommt dieser das/sein Baby. Der Vertrag wird von den beiden Männern “in trockene Tücher” gebracht – was die Schwangere arme oder die unfruchtbare reiche Ehefrau davon halten, scheint nicht zu interessieren. Und so gärt langsam ein Konflikt zwischen den Vieren, in dessen Zentrum nicht nur die ungelöste Frage der Vaterschaft steht, sondern die von der Qualität einer Beziehung überhaupt, in der solche Handel möglich erscheinen.

“Anomie und Lust” wollte ich diesen Text erst nennen (bis mir die Godard-Montagen aufgefallen sind). Denn von der Vereinsamung des Menschen in der Großstadt, von der Warenförmigkeit seiner sexuellen Beziehungen und sozialen Bezüge berichtet die Geschichte des Films zentral. Und sie zeigt diese auch immer wieder: Panorama-Aufnahmen von Wolkenkratzern werden auf äußerst private und intime Situationen geschnitten, geraten die Figuren einmal aus ihren Wohnungen auf die Straßen und in die Stadt, wirbelt die Kamera durch die Gegend, wie, um sie nicht aus dem Focus zu verlieren. Es gelingt ihr jedoch selten. “Lost in Beijing” hat daher vielleicht seinen (ortsbezogenen) Titel. Die Verlorenheit ist jedoch auch als sozialpsychologische und nicht zuletzt auch als filmästhetische zu verstehen: Bild und Ton suchen und finden kaum so etwas wie Bilder der Liebe und Freundschaft in der sich atomisierenden chinesischen Großstadtgesellschaft.

Identität und Konstruktion

Donnerstag, Februar 8th, 2007

Film ist ein Identitätsstifter – Spielfilmhandlung generiert Charaktere, füllt den Filmkörper mit einer (Lebens)Geschichte und Identität. Erst durch die Herstellung authentischer Figuren ermöglicht der Film es, beim Zuschauer Empathie zu wecken. Diese kann so weit reichen, dass die Figuren in der Problematisierung ihrer Identitäten zu Spiegelbildern für den Betrachter werden und darüber hinaus einige Zusammenhänge von Individuum und Gesellschaft oder Individuum und Kunst aufzeigen.

Pretending to be someone: Ad Lib Night (Süd Korea 2006, Lee Yoon-ki) (Forum)

Drei Männer treffen in Seoul auf eine junge Frau, die sie für die von ihnen gesuchte Myun-geun Ko halten. Deren Vater liegt im Sterben und will seine Tochter ein letztes Mal sehen. Weil die junge Frau jedoch abstreitet, die gesuchte Person zu sein und der Tod des Vaters in greifbarer Nähe ist, bitten die jungen Männer die Frau, wenigstens für einen Abend in die Rolle der Gesuchten zu schlüpfen: Sie soll lediglich die Hand Komatösen halten und sich für ihre jahrelange Abwesenheit entschuldigen. Sie lässt sich darauf ein und fährt mit ihnen in die Provinz. Dort hat sich die Familie brereits um den Sterbenden versammelt. Lange nicht gesehene Verwandte, die im Verdacht stehen, nur auf die Erbschaft aus zu sein ebenso wie Menschen, deren Leben eng mit dem des Sterbenden verbunden ist. Die Streitigkeiten und Konflikte, in deren Zentrum immer wieder unbeteiligt das fremde Mädchen aus Seoul gerät, werden von Zeit zu Zeit unterbrochen, wenn es neue Meldungen aus dem Krankenzimmer des Vaters gibt. Der Sterbeprozess zieht sich jedoch hin, man beginnt zu kochen und zu essen. Das Mädchen schaut sich indes im ehemaligen Lebensraum der gesuchten Tochter um und ahnt ein wenig, warum sie die Familie verlassen hat. Als dann der Vater dem Tod gegenübersteht, geht sie ohne Zwang zu diesem, nimmt seine Hand und bittet um Verzeihung. Bei ihrer Rückkehr am nächsten Morgen nach Seoul erfahren wir, dass sie selbst sich ebenfalls von ihrer Familie losgesagt hat und jetzt einsam lebt – so einsam, dass sie sich als Gelegenheitsprostituierte verdingt, um wenigstens auf diese Weise soziale Kontakte zu bekommen. Die erste Handlung nach ihrer Rückkehr ist ein Anruf bei ihrer Familie.

Lee Yoon-kis Film ist in seinem Stil gemächlich, ja fast schon unscheinbar und in seiner Erzählung so unspektakulär, dass man sich wundert, wie er damit 90 Filmminuten füllen konnte. Und doch ist es gerade diese Unaufgeregtheit in Stil und Sujet, die an „Ad Lib Night“ reizt. Die immer wieder aufbrandenden Konflikte, die Unsicherheit über die Identität des Mädchens (bei der man bis zum finalen Telefonat annehmen kann und vielleicht soll, dass sie wirklich die gesuchte Tochter ist) und nicht zuletzt die seltsame Aggression, die mit ihrer Tochter-Darstellung verbunden ist: Bereits auf der Fahrt von Seoul zum Haus des Sterbenden entdeckt sie im Auto Werkzeuge und Waffen und fürchtet, das Opfer einer Entführung zu sein. Dieser Verdacht wird zwar schnell aus der Welt geräumt, doch die Unwägbarkeit des auf sie Zukommenden bleibt – zu irreal und unmoralisch scheint ihr und dem Zuschauer der Wunsch, der an sie herangetragen wurde.

Vielleicht gründet diese Beklemmung in der Atmosphäre des Films daher, dass die Annahme einer gänzlich fremden Rolle in einer solchen Situation erst zeigt, was es bedeutet, eine Identität zu haben, jemand zu sein, der mit moralischen Verpflichtungen ausgestattet ist und Verantwortung gegenüber anderen hat. Die Persönlichkeit des jungen Mädchen, die bis zu Ende durch ihre Schweigsamkeit vage bleibt, wird für die Familienmitglieder mehr und mehr zu einer Projektionsfläche. Vergangene Fehler, schöne Zeiten, traumatische Erlebnisse, werden von den anderen Protagonisten an ihr gespiegelt – und im Wortsinne verhält sie sich wie ein Spiegel, ist für jeden das, was er in ihr sehen möchte. Selbst für den sterenden alten Mann, der sein ganzes Leben lang unnahbar gewesen sein soll, ist sie zum Schluss ein Bild der Menschlichkeit, das zu haben er sich vielleicht selbst gesehnt hat. Indem sie als Frau ohne Eigenschaften auftritt, erhält sie alle Eigenschaften, die man ihr zuschreibt. Sie wird durch ihren sozialen Kontext neu definiert und will schließlich nicht mehr darauf verzichten, wieder eine solche Rolle für andere (und damit für sich) einzunehmen. Die logische Konsequenz ist für sie also die Rückkehr in ihre eigene Familie

Ein kurzer Film über das Selbst: a.k.a. Nikki S. Lee (USA/Süd Korea 2006, Nikki S. Lee) (Forum)

Nikki S. Lee ist Foto-Künstlerin. Sie fotografiert sich selbst, zumeist mit Männern an ihrer Seite und beschneidet die entstandenen Bilder genau an der Stelle, an der sich ihr Körper und der des Anderen berühren, so, dass man noch sieht, dass jemand neben ihr steht, aber dessen Bild selbst verschwunden ist. Sie tritt dabei in immer neuen Verkleidungen auf, schlüpft in alltägliche Identitäten, ist mal schwarze Rapperin, mal japanische Schülern, mal Braut auf einer jüdischen Hochzeit – nie jedoch sie selbst. Wer sie ist, weiß sie eigentlich gar nicht und deshalb dreht Nikki S. Lee einen Film über Nikki S. Lee. Oder anders gesagt: Ihr alltägliches Leben, weltweit umher reisend, von einer Kunstausstellung zur nächsten, wird von einem Kameramann begleitet. Doch auch dabei, ist sie sich sicher, sich nicht selbst entdecken zu können, denn wenn sie in ihrem Alltag gefilmt wird, dann inszeniert sie diesen Alltag vor der oder für die Kamera. Authentizität ist so nicht zu erreichen. „I’m looking in myself from a distance“, sagt sie einmal und beschreibt damit eigentlich bereits das Problem der identitären Selbstkonstruktion.

Denn in dem Moment, wo man über sich selbst nachdenkt, macht man sich zum Objekt seines Denkens. Der Film kann dies Versinnbildlichen, indem eine Regisseurin namens Nikki S. Lee sich selbst vor die Kamera stellt, filmendes Subjekt und gefilmtes Objekt ist – jedoch nicht sie selbst. Man gibt die Authentizität in genau dem Moment auf, wenn man nach ihr zu suchen beginnt. Aus dieser Tatsache zieht Nikki S. Lee eine Lehre und begreift ihr Leben als „pattern“, das sich den jeweiligen Bedürfnissen der Situationen, in die sie gerät, anpassen lässt. So stiftet Nikki S. Lee sich ein Selbst, das eine Bricolage aus unterschiedlichsten Rollen ist. Das aber genau, glaubt man den Sozialwissenschaften, ist das, was eine Persönlichkeit letztlich definiert: die Summe von den Beziehungen, in denen sie steht. Indem Nikki S. Lee sich also auf diese Weise konstruiert, wird sie „selbst“. Ihr Film, der bezeichnenderweise mit einem „a.k.a.“ beginnt, zeigt damit vielleicht doch das, was seine Autorin in ihm sucht. Ob er – wie es der Stil andeutet und die zu Beginn formulierte Agenda plant – damit noch ein Dokumentarfilm ist, muss jedoch bezweifelt werden, wenn man Dokumentarfilm als eine Gattung (miss)versteht, die objektive Realität einfängt und diese nicht erst konstruiert.