Die Ökonomie der späten Liebe

11 Feb 2010 von Gerhard Midding

„Wir sind noch jung“, lautet das Abschiedswort der beiden Liebesveteranen. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatten sie einander nicht gesehen – im Tumult des Rückzug der Kuomintang aus Shanghai im Februar 1949 sind sie einander abhanden gekommen, der Soldat und seine schwangere Geliebte; danach trennte sie der Bruderzwist zwischen Taiwan und der Volksrepublik unerbittlich -, und haben nur eine kurze Frist, um das Verwehrte aufzuholen. Beide haben ihr Leben gelebt, Familien gegründet. Nun darf der Mann aus Taiwan als Besucher nach Shanghai zurückkehren. Ihre Wiederbegegnung hat einen auch im Privaten offiziellen Charakter. Aber es dauert nicht lang, bis ihre Hände zueinander finden.
Die Liebenden tragen auf berührende Weise gealterte Kindergesichter in Wang Qua’ans „Tuan Yuan“ (Apart Together). Auf der Baustelle des Hochhauses, in das sie mit ihrem Ehemann einziehen möchte, rekonstruieren sie ihre Vergangenheit und Zukunft. Sie wollen endlich miteinander durchbrennen. Ja, tatsächlich. Er schlägt einen Handel vor, um den sympathischen Ehemann für den Verlust zu entschädigen, will ihn bis zum Tod finanziell unterstützen. Der Störenfried aus Taiwan bezeugt Achtung vor seinem Rivalen – im Krieg waren sie Feinde -, er spürt, dass seine Geliebte und dieser Mann auf ehrenwerte Weise zusammenlebten. Dieser lässt sich, für das Publikum ebenso überraschend wie für seine Familie, auf das Tauschgeschäft ein. Als westlicher Zuschauer argwöhnt man dahinter die List einer Wiederverheiratungskomödie. Vielleicht liegt man damit nicht falsch. Aber bei Wang Quan‘an steht vor dem Happyend (wie immer es auch ausfallen mag) erst einmal die chinesische Bürokratie. Die Liebe im Herbst ist schön, versichert der Standesbeamte, am Ende des Ganges bezahlen Sie 100 Yuan für die Urkunde.
Von Liebe ist dann aber gar nicht mehr so viel die Rede. Man feiert das Ereignis ausschweifend, es wird viel gezecht, gegessen und bald auch gesungen. Der nicht wirklich gehörnte Ehemann lernt, sich von der Knausrigkeit seines Daseins zu verabschieden. Seine Frau verstummt, sie weiß von Tag zu Tag weniger, was die richtige Entscheidung ist. Ist das Leben klüger als die Sehnsucht der Menschen?
Der diesjährige Eröffnungsfilm ist ein schöner Shanghai Film, weil er dem Zuschauer die Stadt vorenthält. Er kann den Vorwurf der Konventionalität aushalten. Sein Mandat ist es, wie wir gestern feststellten, schließlich nicht, das Kino neu zu erfinden. Aber die Frontalität der Tableaus, in denen Lutz Reitemeiers Kamera die Familienzusammenführung einfängt, ist dennoch wohlüberlegt. Sie reflektiert das Ritual des Familienfotos: Die Harmonie löst sich an den Rändern in Unbehagen auf. Wenn mich etwas in diesem Film noch stärker berührt hat als die Liebe der greisen Königskinder, dann ist es die stille Würde ihres gemeinsamen Sohnes. Er steht abseits. Versöhnen will er sich mit dem Vater nicht. Aber er ist bereit, die Mutter beim Abschied zu begleiten.