Was Reelles

15 Feb 2010 von Harald Mühlbeyer

Nein, ich will hier nicht Scorsses schlechten Shyamalan-Verschnitt “Shutter Island” heranziehen. Aber dennoch: entgleitet mit die Realität? Tun sich da Lücken auf, die nicht sein dürften? Heute Mittag halb 12, Essenszeit vor der 12-Uhr Pressevorführung: Da hat der Kartoffelimbiss in den Arkaden keine Pommes mehr. Erst in einer halben Stunde wieder! Mr. Praline und der leere Käseladen grüßen aus der Ferne. Ich hab dann meine körperlichen Bedürfnissen zurückgestellt.

Oder: AM Samstag fand eine Pressevorführung zu David Sievekings Panorama-Doku “David Wants to Fly” statt, die keine war. Zumindest gab es kein Pressekontingent, Journalisten kamen also gar nicht rein.

Pass auf, geht noch weiter: Zu spät hab ich dann gemerkt, dass heute nachmittag im Colosseum-Kino, weit vom Schuss, eine Vorführung statt, Karte hab ich keine mehr gekriegt. Ob’s denn eine Ersatz-Pressevorführung gebe, frug ich im Pressebüro der Panoramasektion. Die Dame telefoniert mit Jeremy, ach ja, ein paar Pressekarten gibt es, da ist der Walter dann da im Kino, gut, Herr Mühlbeyer, bei der Kinoleitung ist eine Karte für Sie hinterlegt.

War sie nicht.

Ich ohne Karte im Berlinale-Niemandsland; da treffe ich zufällig auf den Kollegen U., der hat eine Karte übrig. Oh, kann ich den Film doch sehen. Happy End!

Kollege U. offeriert mir eine Filmtheorie, die er vor 12, 15 Jahren aufgestellt hat: Kopulation, Koten und Kacken, das muss in einem guten Film drin sein (er erwähnt neben Abel Ferrara auch den Blogkollegen Buttgereit), dann nämlich bilde der Film eine Realität des Menschlichen ab.

Genau diese Elemente kamen in Jo Baiers Berlinale-Special-Film “Henri 4″ vor, man sollte es nicht glauben: Literaturverfilmung nach Heinrich Mann, Historiendrama, Intrigen bei Hofe, Aufstieg eines weisen Königs, Mord und Liebe und Kampf; Regina-Ziegler-Produktion, Degeto auch dabei, Gernot Roll an der Kamera, Hans Zimmer als Komponist: das schreit nach gediegen-biederer Ware, offenbar eigentlich fürs Fernseh, zu den 2 1/2 Stunden noch ein paar Outtakes einmontieren, fertig ist der ARD-Zweiteiler.  Tatsächlich ist nach ungefähr der Hälfte der Punkt erreicht, der dramaturgisch als Ende des 1. Teils gedacht ist.

Aber: ein paar Schamhaare müsst man wohl rausschneiden für 20.15 Uhr, vor allem aber ein paar Grausamkeitseinstellungen. Nein, nicht die Bartholomäusnacht, die ist mit viel Blut und Tod konventionell steril gefilmt. Aber in einer Schlacht sieht man einen Soldaten mit heraushängenden Eingeweiden… Und: ein anderer wird mit einem Schwertstreich niedergestreckt, das ist noch normales Kriegs- und Filmhandwerk – doch dann trampelt ihm ein Pferd über den Schädel.

Was den Film jedoch so richtig heraushebt, so richtig gut macht: Das ist seine Hinwendung zum Schlechten. Ulrich Noethen ist völlig ausgeflippt in seiner Rolle als schwacher, ängstlicher König, der in einer seiner ersten Szenen seine Schwester Margot, die jeden drüberrutschen lässt, übers Knie legt und ihr den nackigen Popo versohlt. Seine Mutter – Hannelore Hoger in einer ähnlich überzogenen Darstellung als sinister Königsmutter – beißt Margot in die Arschbacke. Hochzeitsfest ist Orgie, Devid Striesow spielt den Königsnachfolger, der schwul ist und intrigant und total exaltiert; und auch Julien Boisselier in der Titelrolle, eigentlich der straight man, die Stimme der Vernunft und für Religionsfreiheit (womit die Relevanz für die heutige Zeit abgehandelt wird, das wieder der Bereich biederes Fernsehspiel), er ist ein geiler Bock; was für ein schmieriges Grinsen er aufsetzt, wenn er eine schöne Frau sieht!

Am Ende, Noethen, Hoger, Striesow sind alle schon tot, geht der campy Trashfaktor dennoch nicht verloren. Auftritt italienische Prinzessin, arrangierte neue Ehefrau von Henri 4, sie ist in Sänften durch Schnee unterwegs mit ihrer Zofe, einer Zwergin (sic!), und sie halten an, um Pipi zu machen.

Ficken, Kotzen, Pipimachen – alles drin, alles dran. Womit der Film mehr Realität hatte als die Realität des Friedrichsstadtpalastes. Da wurde mir nämlich von einer strengen Platzanweiserin zehn Minuten vor Filmbeginn beschieden, dass die Toiletten abgeschlossen seien. Erst während des Filmes werden sie wieder aufgemacht, da wird gar nicht diskutiert! Meine Ankündigung, dann eben auf die Bühne zu pissen, wurde mit Szenenapplaus quittiert, ich tat es nicht. Wieder habe ich mein Bedürfnis unterdrückt, wieder hat das Irreale über die Realität gesiegt.

Harald Mühlbeyer