Schlingensief

16 Feb 2010 von Harald Mühlbeyer

Zu später, später Stunde ein paar Worte zu Christoph Schlingensief (ja, so mach ich das: guck am Tag 6 Filme, von 9 bis 24 Uhr, dann U-Bahn-Fahrt, dann noch tippen, mannmannmann, bin ich fertig…).

Schlingensief hat gestern, also am 14.  (ich bin ja einen Tag hinterher, macht aber nix) im Rahmen von Forum Expanded eine Veranstaltung bestritten: den italienischen Film “L’Inferno” von 1911 zu kommentieren.

Erstens: Schlingensief sieht viel besser aus als letztes Jahr, als er Jury-Mitglied war. Nicht mehr so dünn, nicht mehr so blass, nicht mehr so erschöpft (wie hat er das damals ausgehalten, als der Krebs noch frisch war?)

Zweitens: Die Sache mit dem Operndorf in Afrika/Burkina Faso ist ihm heiliger Ernst. Mit großer Begeisterung führte er zunächst Bilder von der Grundsteinlegung vor ein paar Tagen (oder Wochen? Kein Zeitgefühl mehr) vor, vom Laptop auf die große Leinwand gebeamt, gab Anekdoten zum Besten von den 12 Häuptlingen dort und vom deutschen Botschafter; und stellte das Projekt vor, das ja nicht nur ein Festspielhaus (nicht Bayreuth, auf keinen Fall Bayreuth!) beinhaltet, sondern auch eine Schule und ein Krankenhaus – eine Geburt für 1,50 Euro, und Prostata-Operationen durch den Penis, Schlingensief hat das detailliert beschrieben (womit er zu Helge Schneider aufschließt, vgl. “Beim Urologen” auf einer der “Hörspiele”-CDs), totale Präzisionsarbeit bei Operationen (OPERationen) – für Europäer gibt’s ein Gästehaus, und für sie wird’s auch teurer sein, das ganze muss sich ja auch tragen…

Drittens kann er noch immer, oder wieder, schnell und viel und weit ausschweifend reden, über diverse Themen – diesmal natürlich besonders über H. Hegemann, die er in Schutz nahm vor selbstgerechten Bloggern; und der er zugestand, einmal, mit ihren 17 Jahren, einen banalen Schwachsinnssatz wie “Ich bin nur Gast in meinem Körper” sagen zu dürfen, jetzt sei’s damit aber auch genug. (womit er sich Harald Schmidt zu besten Zeiten annäherte)

Viertens führte er den Film vor, deren drei Regisseure ich genauso vergessen habe wie Schlingensief selbst. “Statisch, belanglos und interessant” sei der Film, wie Theater eben, damals hat man ja nur ganz kleine Kameraschwenks hingekriegt, er bebildert (und betextet in den Zwischentiteln) Dantes Höllenfahrts-Geschichte. Schlingensief nun mischte den Soundtrack des Films dazu – denn die DVD-Musik könne man sich nicht anhören, sie stammt von Tangerine Dream, die er aber fleißig mit Vangelis und den Herzog-Soundtrack-Lieferern Popol Vuh verwechselte -, er mischte also zusammen  mit verschiedenen Musikstücken, mit Filmton (u.a. aus Apocalypse Now, dem Exorzisten, aus Viscontis Verdammten und aus Die lustige Welt der Tiere), dazu Kinskis Jesus Christus Erlöser, Hubert Fichtes Exotik-Berichten von Wahnsinn und Krankheit… und Schlingensief las aus Johannes’ Offenbarung. Dazu selbstverfertigte Gedankenfetzen über Wahnsinn und Vergänglichkeit – weniger jenseitsorientiert als mit der großen Frage des richtigen Lebens spielend. Totales Sampling also, wieder mal Hegemann – aber eigentlich ja sowieso schon immer Schlingensiefs Arbeitsweise, geht nicht anders.

Er berichtete auch, das ist interessant, von früher. Als er als Kind seine Super 8-Filme mangels Möglichkeiten ohne Ton drehte, dann beim Fernseher das Bild wegschaltete und nur den Ton laufen ließ und zum TV-Sound aus laufenden Sendungen seine Filme projizierte, zufallsmäßig. Und als damals “Welt am Draht” lief, der ja jetzt auf der Berlinale in neuer Restaurierung gezeigt wird, da war das damals so dunkel auf dem Bildschirm, dass die Schlingensief-Familie ganz nah ranrücken musste  – und Papa, Mama und Sohn mit ihren Spiegelungen auf der Mattscheibe auf wunderbare Weise im Film mitspielten.

Harald Mühlbeyer

Nach Diktat verreist ins Land der Träume

74,361 Kommentare zu “Schlingensief”