Cain’s Decendant (Kain no matsuei, Japan 2006, Shutaro Oku) (Forum)

17 Feb 2007 von Stefan Höltgen

Industriestadt Kawasaki: Der Elektroniker Munakata trifft dort ein, um einen Job bei der Firma “International Electronic Industries” anzutreten. Landschaft und Umwelt der Gegend sind vergiftet. Manukatas Vorarbeiter ist gewalttätig, sein Chef liegt im Sterben, das Unternehmen wird von einem christlichen Pfarrer unterwandert, der Munakata bald einen Geheimauftrag der Regierung zuschiebt: Eine Schusswaffe zum Einmalgebrauch soll aus einer TV-Fernbedienung hergestellt werden. Die notwendigen Teile zur Erstellung soll Munakata bei einem Händler in der Nähe einkaufen, der sie ihm mit Widerwillen überlässt. Die erste Charge der Produktion funktioniert jedoch nicht, so dass Munakata weitere Bauteile besorgen muss. Es lässt sich schließlich von der Frau des Händlers verführen und stiehlt die benötigten Teile sowie Geld. Indes versucht die Tochter des Pfarrers, Munakata für die allwöchentlichen christlichen Messen zu gewinnen. Die Verwicklungen mit der Frau des Teilelieferanten und der Tochter des Pfarrers sorgen schließlich für eine Kette von Unglücksfällen, an deren Ende Munakata als Bauernopfer hingerichtet wird.

Diesen Plot aus “Cain’s Descendant” herauszulesen, bedarf es einigen hermeneutischen Geschicks (und vielleicht gibt meine Zusammenfassung nicht einmal annähernd das wieder, was wirklich auf der Handlungsebene geschieht). Denn Okus Film verfährt in der Genese seiner Erzählung äußerst surreal, baut scheinbar unmotiviert Rückblenden ein, lässt zusehends Anschlüsse an Handlungssequenzen fort und präsentiert Bilder, Episoden und Figuren, die wie vom Filmgesamten losgelöst erscheinen. Die Verwirrung, die der Film damit stiftet, findet ihre Entsprechung in der Desorientierung seines Protagonisten Munakata.

Munakata steht vielleicht für den Archetypus des Individuums in der vollautomatisierten Produktionsgesellschaft, die Menschen nur noch auf ihre Funktionszusammenhänge hin einzubinden versteht. Demzufolge finden wir Munakata auch häufig in Situationen und Bildern wieder, in denen er wie in der Technologie eingespannt erscheint. Diese Szenen wechseln sich einzig mit solchen der Isolation des jungen Mannes in seinem kargen, heruntergekommenen Zimmer ab. Nur ein Bett und ein Fernsehgerät befinden sich darin. Das Fernsehgerät “zeigt” nur “ein” Programm: Bildschnee mischt sich mit pornografischen Szenen und einer Nachrichtensendung, deren Ton zu hören ist: Sie berichtet pausenlos von einem Serienmörder, der die schrecklichsten Verbrechen verübt hat.

“Cain’s Descendant” erinnert an die frühen Filme David Cronenbergs und David Lynchs. Zum einen sind es die oft unmotiviert erscheinenden und grotesken Situationen, in die der Protagonist gerät (die den Zuschauer nicht selten auch mit Szenen exzessiver Gewalt und Sexualität konfrontieren), die diese Erinnerung weckt, zum anderen ist es die Atmosphäre: Die vollständige Verlorenheit Manukatas in der Industrielandschaft Kawasakis beschwört die Bilder des umherirrenden Henry Spencer aus Lynchs “Eraserhead”; die Verquickung von Körperlichkeit, Gewalt und Technologie erinnert an Cronenbergs “Scanners” und “Videodrome”. Standen diese amerikanischen und kanadischen Filme der späten 1970er und frühen 1980er Jahre bereits für die Verlorenheit des Individuums, so weist “Cain’s Descendant” auf diesen Prozess in der japanischen Gesellschaft von heute hin.

Regisseur Oku hat versucht, diese Verlorenheit als einen Wechsel im Karma seines Protagonisten und in den vergebenen Sinnstiftungsversuchen durch Religionen zu inszenieren, wie er auf einem Podiumsgespräch im Anschluss an den Film anmerkte. Einen “Raum” finde dieses Problem in der Enge der Lebensverhältnisse vieler junger Japaner, so Oku. Sein Film vermag diese Enge in jeder Einstellung aufs Unangenehmste zu bebildern. Die Figuren drücken sich an den Bildrändern herum, haben dort, wo sie sich aufhalten, kaum Bewegungsfreiheit, weil “Sachen” den Lebensraum vollständig okkupiert haben. So funktionieren die Menschen in “Cain’s Descendant” dann irgendwann selbst wie Sachen, werden zur Staffage, zum Lagergut, dessen man sich ohne große Gesten entledigen kann.