Spider Lilies (Ci qing, Taiwan 2007, Zero Chou) (Wettbewerb)

16 Feb 2007 von Stefan Höltgen

Wo die Kollegen hier schon auf Festival-Leitmotive hinwiesen: Erinnerung ist eines (zumindest in einigen der Filme, die ich hier gesehen habe) und speziell die identitätsstiftende Funktion der Erinnerung. Nach den beiden koreanischen Filmen am ersten Festivaltag, habe ich das Thema nun auch im Taiwanesischen Beitrag “Spider Lilies” von Zero Chou wieder entdeckt. Anders als ihre Regiekollegen thematisiert sie es jedoch nicht so sehr im Metaphysischen, sondern koppelt es an den Leib des Erinnernden: per Einschreiben ins Fleisch wird Gedächtnis bewahrt, Wahrheit gestiftet und Vergangenheit konstruiert.

Der Film erzählt die Geschichten zweier junger Frauen, deren Lebenswege sich vor Jahren bereits gekreuzt haben und die jetzt abermals aufeinander treffen – die Jüngere (Jade) eine trügerische Kindheitserinnerung wiederbeleben möchte, die Ältere (Takeko) sich jedoch partout nicht erinnern kann oder will, dass sich beide kennen. Beide Frauen sind Lesbierinnen und beide können ihre Sexualität nicht ausleben. Während Jade sich seitdem ihre Mutter sie im Stich ließ familiär und gesellschaftlich isoliert fühlt und sich für die wahre Liebe aufhebt (während sie indessen die Ware Liebe übers Internet verkauft), verbindet die Takeko ihre sexuellen Erfahrungen mit familiären Unglücksfällen, die während dessen augetreten sind. Beide Frauen treffen in Takekos Tatoo-Studio wieder aufeinander, wo sich Jade eine Tätowierung wünscht, “die Liebe ausdrückt” und mit der sie gleichzeitig Takekos Erinnerung an sich zurückrufen will.

Dass Erinnern hier an eine Inskription ins Fleisch gekoppelt ist, ist ein gleichermaßen semiotisch wie filmisch kluger Schachzug. Denn einerseits ist Film als Bildmedium auf “Verkörperung” nicht sichtbarer Phänomene angewiesen, andererseits ist gerade die Vieldeutigkeit der im Film präsentierten Tatoos bestens dazu geeignet, hermeneutische Prozesse in Gang zu setzen. Und Hermeneutik ist auch jene psychologische Methode, mit der Takeko und Jade zusammen ihrer Erinnerungen auf die Spur kommen. Während Takeko absichtlich vergisst (also Spuren verwischt), konstruiert Jade absichtlich falsche Erinnerungen an eine frühere Liebe zu Takeko. Aus den dadurch entstehenden “Lücken” entsteht nach und nach ein korrektes Bild.

Der Zuschauer wird Zeuge der sukzessiven Restauration dieses Bildes. Der Film ermöglicht dies, indem er seine Geschichte zum Einen nicht geradlinig erzählt, sondern in verschiedenen Seitensträngen und Rückblenden beinahe fugenhaft Leitmotive wiederholt, die erst zum Ende hin ihre volle Bedeutung erlangen. Zum anderen problematisiert “Spider Lilies” das Phänomen des Erinnerns und Vergessens als eine höchst trügeriche und subjektive Arbeit, bei der er Erinnernde psychische Hürden überwinden muss, was einem Lernprozess gleich kommt. Wir wohnen dem schmerzhaften Prozess bei, sehen die Protagonisten in Tränen vor den hochkommenden Bildern fliehen und immer wieder in Tränen und Verklärung versinken.

Wie zur Illustration dieses Lernprozesses ist die Geschichte Takekos mit der ihres traumatisierten und dadurch dissoziierten Bruders verknüpft, der nach einem Erdbeben sein Gedächtnis verloren hat. Sicherlich ist die vom Film in Aussicht gestellte Heilung durch nochmaliges Erleben des Traumas ein altbackenes psychoanalytisches Klischee; aber es zeigt den Mädchen eben deutlich, dass sie selbst auch arbeiten müssen, um wieder das sein zu können, was sie waren.

Wie sich aus dem Vorangegangenen vielleicht schon ablesen lässt, inszeniert Zero Chou ihren Film nicht ohne List und Tücke. Der Wechsel zwischen den authentischen Großstadt-Themen und -settings und den Erinnerungstopoi wird durch einen quasi-mythologischen Unterbau verwirklicht: Die leitmotivische Lilien-Tätowierung ist in “Spider Lilies” mit einem Todes-Mythos verbunden. Dieses Thema wird zwar nicht voll entfaltet, man ahnt jedoch, dass hinter der Angst, der Mythos könnte sich bewahrheiten, in Wirklichkeit eine viel gegenständlichere Angst verbirgt.

Dies ist die Angst vor der eigenen – zudem gesellschaftlich immer noch nicht akzeptierten – Homosexualität der beiden Frauen. Hier geht “Spider Lilies” optisch und erzählerisch äußerst behutsam vor, verschweigt jedoch nie die Körperlichkeit der Liebe. “Spider Lilies” ist also vor allem ein Liebesfilm, ein Drama, in welchem die Liebenden einen steinigen Weg zueinander zu überwinden haben, der sie aus der Welt der Erinnerungen über die Ranken einer Lilien-Tätowierung in die Fleischlichkeit der Lust führt.