Lost in Beijing (Ping, guo, China 2007, Yu Li) (Wettbewerb)

08 Feb 2007 von Stefan Höltgen

Die Frage, ob “Lost in Beijing” in ungekürzter Fassung auf der Berlinale zu sehen sein würde, lässt sich selbst nach der Sichtung (und wenn man sich von der Pressekonferenz fern hält) nicht ohne weiteres beantworten. Sicherlich sind es die Sexszenen des Films gewesen, die bei den chinesischen Zensoren auf Widerstand gestoßen waren. Die sind in der von mir gerade gesehenen Fassung aber noch so reichlich und explizit (mit einigen zensurpräventiven Verhüllungen freilich) vorhanden, dass der Film ungekürzt wirkt.

Auffällig sind die Bildästhetiken des Films. Neben der beinahe permanent (?) eingesetzten Handkamera, den Unschärfen, kurzen Brennweiten und desorientierenden nahen Einstellungsgrößen sticht die Montage aus “Lost in Beijing” am deutlichsten hervor: Fast scheint es, als habe der Godard von “Außer Atem” hier Pate gestanden: Selbst äußerst langsame Sequenzen, die lediglich eine Person weinend auf einem Bett sitzend zeigen, werden mit mehreren Jump-Cuts zelegt. Unter dem Verdacht der Zensurierung könnte man annehmen, dass eine derartige Montage ein gutes Versteck für Zensurkürzungen sein könnte. Das ist natürlich (bzw. höchstwahrscheinlich) nicht so – die Montage steht, wie alle anderen Bildästhetiken ganz im Dienst der Erzählung des Films.

Die handelt, tragikomisch, von zwei verheirateten Paaren, das eine reich, das andere arm. Als der reiche Mann die arme Frau vergewaltigt und diese kurz darauf schwanger wird, entsteht beim armen Mann die Idee, den reichen um Geld zu erpressen. Als Gegenleistung bekommt dieser das/sein Baby. Der Vertrag wird von den beiden Männern “in trockene Tücher” gebracht – was die Schwangere arme oder die unfruchtbare reiche Ehefrau davon halten, scheint nicht zu interessieren. Und so gärt langsam ein Konflikt zwischen den Vieren, in dessen Zentrum nicht nur die ungelöste Frage der Vaterschaft steht, sondern die von der Qualität einer Beziehung überhaupt, in der solche Handel möglich erscheinen.

“Anomie und Lust” wollte ich diesen Text erst nennen (bis mir die Godard-Montagen aufgefallen sind). Denn von der Vereinsamung des Menschen in der Großstadt, von der Warenförmigkeit seiner sexuellen Beziehungen und sozialen Bezüge berichtet die Geschichte des Films zentral. Und sie zeigt diese auch immer wieder: Panorama-Aufnahmen von Wolkenkratzern werden auf äußerst private und intime Situationen geschnitten, geraten die Figuren einmal aus ihren Wohnungen auf die Straßen und in die Stadt, wirbelt die Kamera durch die Gegend, wie, um sie nicht aus dem Focus zu verlieren. Es gelingt ihr jedoch selten. “Lost in Beijing” hat daher vielleicht seinen (ortsbezogenen) Titel. Die Verlorenheit ist jedoch auch als sozialpsychologische und nicht zuletzt auch als filmästhetische zu verstehen: Bild und Ton suchen und finden kaum so etwas wie Bilder der Liebe und Freundschaft in der sich atomisierenden chinesischen Großstadtgesellschaft.